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Im Rollstuhl hinterm Steuer

Foto: ausblenden.de

Derk Hille ist seit einem Sturz querschnittsgelähmt. Trotzdem fährt der 55-Jährige Auto: Eine Spezialwerkstatt hat seinen VW T5 Caravelle mit ausgeklügelter Technik umgebaut. 

Derk Hille sitzt in seinem Elektrorollstuhl und öffnet per Fernbedienung die Seitentür seines roten VW T5 Caravelle. Er drückt einen weiteren Knopf, eine Rampe klappt aus. Hilles rechte Hand liegt steif auf dem Bedienpad seines Rollstuhls, tippt auf einen dritten Knopf – er fährt auf die Rampe. Eine weitere Fernbedienung – die Rampe hebt sich langsam auf die Ebene des Wageninneren. Knopf – Rampe klappt ein. Knopf – Tür schließt.

Der Fahrersitz fehlt. Dorthin fährt Derk Hille nun seinen Rollstuhl. Ein Klickgeräusch, der Rollstuhl rastet an einer Bodensicherung ein. Hille lächelt, mit einem Blick prüft er Rück- und Seitenspiegel, greift eine der Fernbedienungen, die an langen Bändern um seinen Hals hängen, tippt einen Knopf, startet den Motor – und fährt los. Draußen winkt Werkstattmechaniker Lars Plomann, Derk Hille zwinkert ihm durchs Beifahrerfenster zu. Selber winken kann er nicht. Derk Hille ist querschnittsgelähmt.

Ein querschnittsgelähmter Mann sitzt am Steuer seines eigenen Autos und nimmt aktiv am Straßenverkehr teil – vor ein paar Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Dank des technischen Fortschritts aber können auch Menschen mit irreversiblen Lähmungen sicher selbst Auto fahren. Für Derk Hille ist das ein kleines Wunder.

Als Flugzeugmechaniker war er früher bei Airberlin für die Wartung von Flugzeugen und später als Prüfer für die Luftfahrzeuge zuständig. Er hatte Spaß an seinem Job, war geschickt und zuverlässig und bei Kollegen und Vorgesetzen beliebt. Dann passierte der Unfall: Im Februar 2012 stürzte Hille in seinem Haus im östlich von Berlin gelegenen Müncheberg die Treppe hinunter.

Er überlebte, schwer verletzt und mit zwei zertrümmerten Halswirbeln. Zwei Wochen künstliches Koma, nach vier Wochen wurde er von Frankfurt/Oder nach Berlin ins Unfallkrankenhaus Marzahn verlegt. Dort blieb er ein dreiviertel Jahr. Die Diagnose: Tetraplegie, eine Querschnittslähmung des Körpers, von der auch alle vier Gliedmaßen, also beide Beine und beide Arme, betroffen sind.

Ein Schock. Derk Hille steckte in einem Körper, der ihm nicht mehr gehorchte. „Anfangs war ich vollkommen bewegungslos“, erinnert sich Derk Hille. Der einst vitale, handwerklich geschickte Mann – plötzlich ein Pflegefall. Erst acht Wochen nach dem Unfall konnte er selbstständig atmen. „Das Schlimmste war, sich nicht mitteilen zu können.“

Obwohl Derk Hille „ein kompletter Querschnitt“ ist, wie er es selbst formuliert, funktionieren manche Muskeln. „Medizinisch ist das nicht zu erklären, sowas gibt es aber immer wieder“, weiß der 55-Jährige. Mit der linken Hand schaffte er es irgendwann, sich mitzuteilen – mittels eines Alphabets, auf das er zeigte. Nach seiner Entlassung folgten viele Operationen, unter anderem am Daumen. Bis heute macht er täglich ergotherapeutische Übungen für die Beweglichkeit seiner Hände. Das Ergebnis dieser harten Arbeit: Er kann jetzt mit der rechten Hand Knöpfe drücken und einen Schlüssel halten. Er sagt: „Man erarbeitet sich sehr mühsam kleine Schritte.“

Fast anderthalb Jahre nach dem Unfall fing er wieder an zu arbeiten. Bei seinem alten Arbeitgeber, jedoch in einer neuen Abteilung. Im „Engineering“ ist er nun für die Funktion der Software auf den Flugzeugen zuständig. „Ein Computerjob“, fügt er leise seufzend hinzu. „Dabei war ich doch nie der Bürotyp.“ Er betrachtet seine steifen Hände. „Ist schon traurig, wenn man plötzlich so ein Grobmotoriker ist.“ Doch er sei dankbar für seine Arbeitsstelle. Im Unternehmen sei man ihm „extrem entgegen gekommen.“ Extra für ihn wurden elektrisch aufgehende Türen und eine barrierefreie Toilette installiert.

Seine Arbeitswege von Müncheberg nach Berlin hinein und wieder zurück fährt er jeden Morgen und jeden Nachmittag selbst. Von draußen sieht niemand, wie schwer er beeinträchtigt ist. Nur der blaue Aufkleber an der Heckscheibe verrät, dass hier jemand mit Rollstuhl transportiert wird.

Vor dem Unfall fuhr Hille einen VW Touran. „Bequemlichkeit beim Fahren war mir schon immer wichtig“, sagt er. „Ich war mal einen Meter Sechsundachtzig, da passt man nicht in jedes Auto.“ Für ihn gibt es ein Leben vor und eines nach dem Unfall. Vorher war er der große, kräftige Mann, der trotz Rückenschmerzen agil war, handwerklich begabt, der nach der Arbeit gerne Bücher las. Jetzt, nach dem Unfall, sitzt er unbeweglich in einem Ungetüm von Rollstuhl, der mit seinen Außenmaßen nicht einmal durch jede Tür, geschweige denn in jedes Auto passt. Auch der VW Touran passte nicht mehr.

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln würde er für seinen Arbeitsweg etwa drei Stunden pro Fahrt brauchen. Zu lange für Derk Hille. Er kann nicht den ganzen Tag in derselben Position sitzen, da er sonst wunde Stellen bekommt. Außerdem ist nicht jeder Bus, nicht jeder Zug barrierefrei, das Umsteigen oft mühevoll und nur mit fremder Hilfe möglich.

Derk Hille, der schon immer gerne Auto fuhr, recherchierte im Internet und stieß auf den Fahrzeugumrüster Kadomo, der seit knapp zwei Jahren am Unfallkrankenhaus in Berlin-Marzahn sitzt. Die Werkstatt ist einer der wenigen Spezialisten in Deutschland für den behindertengerechten Umbau von Autos. Mehrere Angestellte haben selbst körperliche Handicaps. Hier gibt es Mechaniker mit dem nötigen technischen Know-How und kreativer Denke.

Die Berliner Werkstatt mit weiteren Standorten in Nordrhein-Westfalen und Bayern bietet alle möglichen individuelle Lösungen „für Menschen mit wenigen Restfunktionen“, so die Selbstbeschreibung. „Es gibt eine große Vielzahl an technischen Möglichkeiten“, sagt Vertriebsleiter Oliver Kuckuk. Derk Hilles VW T5 Caravelle mit langem Radstand habe einen „relativ komplexen Umbau“ erhalten, der insgesamt zwei Monate dauerte: Neben elektrischer Sonnenblende und Handbremse, elektrisch bedienbaren Türen sowie Regen- und Lichtsensoren hat sein Wagen nun etliche weitere technische Finessen, die ihm das selbständige Fahren und Bedienen ermöglichen.

Die reine Arbeitszeit lag bei ungefähr ein bis zwei Wochen. Herausfordernd sei vor allem die Anpassung an die Bedürfnisse, erklärt Kuckuk. Allein die Betätigung des Automatik-Wählhebels könne sehr aufwändig werden. Einige Kunden könnten noch die Entriegelung betätigen, andere brauchen Unterstützung von Stellmotoren oder mechanischen Verstärkern. Und am Ende müsse alles hübsch aussehen.

Ein besonders wichtiger Faktor ist der Zugang zum Auto. In Hilles T5 fährt die seitliche Rollstuhlhebebühne mit extrem flachem Kassettenlift innerhalb von 35 Sekunden aus. Sie hebt bis zu 300 Kilogramm und trägt somit seinen schweren Elektrorollstuhl mit ihm ins Auto. Für sie mussten unter anderem Auspuffanlage und Tank versetzt werden. Eine zweite Batterie versorgt die Konstruktion mit Strom.

Der Wagen bekam eine Lenkgabel mit Lenkkraftverstärkung am Steuerrad, in die Hille seine Hand einklemmen und so auch ohne Fingerfunktion mit nur leichtem Druck nach rechts und links fahren kann. Einen sogenannten „Commander Multidrehknopf“, über den mit einer Hand bis zu 14 Funktionen wie Licht, Blinker, Hupe gesteuert werden können. Für einige dieser Funktionen gibt es zwar auch die Möglichkeit der Sprachsteuerung – „Die ist aber bei weitem nicht so sicher und zuverlässig wie der Commander“, sagt Werkstattleiter Lars Plomann.

Gas und Bremse bedient Derk Hille ebenfalls mit einem sensibel eingestellten Handgriff. „Das musste ich erst üben – anfangs hat mein Beifahrer regelmäßig an der Frontscheibe geklebt, so stark reagiert das Handgas“, scherzt er.

Etwa 42.000 Euro kostete der Umbau. In seinem Fall wurde der gesamte Betrag von der Rentenkasse übernommen, da er den Wagen zur Teilhabe am Arbeitsleben für seinen täglichen Arbeitsweg benötigt.

2003, im „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“, begannen Autohersteller damit, Kunden mit Behinderungen Rabatte bis zu 20 Prozent auf Neuwagen zu gewähren. Mittlerweile bieten fast alle Automobilkonzerne Kunden unter bestimmten Voraussetzungen einen Preisnachlass. „Da immer mehr Hersteller diesen auch gezielt kommunizieren und zu einem Verkaufsinstrument machen, steigen die Verkaufszahlen insgesamt an“, weiß der Gründer und Vorsitzende vom Bund behinderter Auto-Besitzer, Achim Neunzling. „Zudem verzichten seit Jahren immer mehr Hersteller auf die Merkzeichen im Ausweis, was die Nutzergruppe wesentlich erhöht hat.“

Für Derk Hille ist das Autofahren eine der wenigen Konstanten, die trotz Unfall geblieben sind. Er fährt allein zur Arbeit, zu Freunden, zum Einkaufen, zu den Therapiestunden. Mittlerweile kann er auch sanft Gas geben und abbremsen, ohne dass Beifahrer einen Schreck bekommen.

Das gute Gefühl hinterm Steuer ist geblieben: „Sobald ich im Auto sitze, fühle ich mich zu Hause, während der Fahrt höre ich Radio oder Hörbuch, wie früher“, sagt er. Als „Mobilitätsmanufaktur“, wie sich der Werkstattbetrieb selbst bezeichnet, habe ihm Kadomo Beweglichkeit im doppelten Sinne geschaffen: „Nicht nur mein Auto wurde umgerüstet, auch mir selbst wurde Mobilität und somit ein Stück Lebensqualität wiedergegeben. Darüber bin ich sehr glücklich.“

Der Report erschien auf motor-talk.de.