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Als Kriegsflüchtling auf Sylt

Foto: Milos Djurik

Der Gegensatz könnte kaum größer sein: Auch auf Sylt, in den Reetdach-Häusern auf Deutschlands teuerster Insel, sind Flüchtlinge untergebracht. Wie gut das funktionieren kann, zeigt der Erfolg eines jungen Mannes aus Afghanistan.

Salih Shekhan lehnt am weißen Gartenzaun. Er sieht das reetgedeckte Backsteinhaus vor sich, Butterblumen im Gras. Nebenan mäht jemand den Rasen, ein paar Möwen kreisen über ihm am blauen Himmel. Keitum auf Sylt, ein friedlicher Ort. In Salih Shekhans Kopf herrscht Krieg.

Der sportliche Mann ist Mitte 20, genau weiß er es nicht, in seiner Heimat wurden seine Geburtstage nicht gefeiert. Vor acht Jahren floh er vor den Taliban aus Afghanistan. „Ich hatte Angst um mein Leben“, sagt er. Zu Fuß, mit Bussen, in Lkw versteckt und per Schiff schaffte er es nach Deutschland. Von Bielefeld schickten ihn die Behörden nach Neumünster, dann nach Niebüll, schließlich nach Sylt.

Mehr als hundert Asylbewerber leben bereits hier, zunächst nicht gerade zur Begeisterung von Villenbesitzern und Luxusurlaubern. Das Geld sitzt locker auf Deutschlands teuerster Ferieninsel, nicht nur in Strandrestaurants wie der Sansibar, wo Gäste bei Champagner den Sonnenuntergang genießen. Hunger, Armut, Unterdrückung waren weit weg – bis die Flüchtlinge kamen.

Kommunen auf dem Festland stellen Zelte auf oder nutzen Turnhallen als Unterkunft für Asylbewerber. Sylt wählte einen anderen Weg und entschied sich für eine dezentrale Unterbringung der neuen Inselbewohner. Unter anderem mieteten die Behörden auch jenes reetgedeckte Haus in Keitum, in das Salih Shekhan gezogen ist, mit acht weiteren Männern aus Syrien und Afghanistan.

Exklusiver könnte ihr neues Umfeld kaum sein. „Fisch-Fiete“ und das „DaySpa Keitum“ locken ein verwöhntes Publikum an, im „Reethüüs“ zahlen Gäste 300 Euro und mehr für eine Übernachtung. Häuser in Shekhans Nachbarschaft stehen mal für zwei, mal für elf Millionen Euro zum Verkauf.

Würden Asylbewerber nebenan womöglich die Preise drücken? Die Vermieterin der Flüchtlingsunterkunft erhielt Drohungen per SMS, auch Keitums Pastorin Susanne Zingel bekam den Ärger wohlhabender Bürger, die ihre Immobilie am Watt zu etwa 75 Prozent als Zweitwohnsitz nutzen, zu spüren: „Es gab Irritationen und viele Fragen“, sagt sie diplomatisch. Die Geistliche erinnerte an christliche Werte, „an Menschlichkeit und Solidarität, und an die traditionell gelebte Gastfreundlichkeit der Friesen“.

Salih Shekhan ist ein freundlicher, fröhlicher Mensch, vor seiner Flucht studierte er Informatik in Afghanistan. In seiner alten Heimat war die Gastfreundschaft der Friesen nicht bekannt, und auch auf Sylt hat er davon zunächst wenig gespürt. „Lern Deutsch, wir sind hier in Deutschland“, bekam er zu hören, wenn er höflich auf Englisch nach dem Weg fragte.

Doch inzwischen bringen die Insulaner ihre Herzlichkeit nicht mehr nur Urlaubern, sondern auch Flüchtlingen entgegen.

Deren Alltag hat sich zwischen Dünen und Watt gut eingespielt. Am Wochenende spielen sie Fußball in einer Mannschaft, die ein pensionierter Beamter für sie gegründet hat. Dienstags und donnerstags geht es zur Tafel nach Westerland, dort werden kostenlos Lebensmittel verteilt. Und freitags, da singen sie.

Das Singen hat Sabine Krüger eingeführt. Ihre Familie betreibt in Westerland ein Teegeschäft. Im November besuchte sie mit ihrer Tochter die Flüchtlinge. „Mit Klampfe unterm Arm, einer Tüte Lebensmittel und Arabisch-Deutsch-Wörterbüchern. Wir wollten sehen, wer das so ist, was wir tun können. Wir haben zusammen gegessen und gesungen.“ Dann luden sie die Flüchtlinge zu sich ein.

Bis zu 40 Leute kommen jetzt regelmäßig, Sylter und Flüchtlinge wie Salih Shekhan. Die Männer und Frauen fahren mit dem Finger über die Notenzettel, manche können die Texte schon auswendig. Nach einem arabischen Lied kommt „Die Gedanken sind frei“ an die Reihe, ein Lied der Freiheit, in das alle lauthals einstimmen. Krüger, 59, schaut in entspannte Gesichter, sie hat gelesen, dass der Mensch keine Angst hat, wenn er singt.

Salih Shekhan ist froh über jede Aktivität. Vor anderthalb Jahren fragte er schräg gegenüber von seiner Unterkunft im Benen-Diken-Hof, einer exklusiven Hotelanlage mit weißen Reethäusern und kiesgedeckter Zufahrt, nach einem Job. „Ich bin jung, ich habe zwei Hände, ich will arbeiten“, sagte er. Hotelier Claas-Erik Johannsen war beeindruckt – und gab Shekhan einen Sommerjob als Aushilfsgärtner. „Salih ist ein Volltreffer“, sagt Johannsen.

Der Unternehmer sitzt auch im Vorstand des Hotel- und Gaststättenverbands Sylt und weiß: „In der Branche gibt es zurzeit 350 freie Stellen und 50 bis 60 freie Ausbildungsplätze.“ Wenn jemand einen Job will, kriegt er ihn auch. Nur für die Asylbewerber ist es schwerer: Potenzielle Arbeitgeber müssen erst mal nachweisen, dass es keinen geeigneten EU-Bewerber für ihre Stelle gibt.

Bei Shekhan hat es geklappt. Er hat einen Ausbildungsvertrag zum Restaurantfachmann im Benen-Diken-Hof in der Tasche, am Dienstag war sein erster Tag als Azubi.

Aus der Flüchtlingsunterkunft ist er ausgezogen, jetzt lebt er in einer WG. Der größte Teil seines Gehalts geht für die Miete drauf. Die Insel ist teuer, doch Shekhan strahlt: „Ich werde Sylter.“