Porträt

„Ich verteidige Menschen, nicht die Tat“

Ferdinand von Schirach hat mit „Verbrechen“ einen Bestseller verfasst. Die Täter, die der Enkel des verurteilten NS-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach darin beschreibt, hat er in der Realität als Strafverteidiger in Berlin vor Gericht vertreten.

„Als sie die Tür öffnete, nahm Fähner wortlos die Baumaxt von der Wand. Sie stammte aus Schweden, handgeschmiedet, sie war eingefettet und ohne Rost. Ingrid verstummte. Er trug noch die groben Gartenhandschuhe. Ingrid starrte auf die Axt. Sie wich nicht aus.“

Das ist ein Ausschnitt aus einem von elf Fällen, die Ferdinand von Schirach gerade unter dem schlichten Titel „Verbrechen“ veröffentlicht hat. Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger mit eigener Kanzlei in Charlottenburg und hat all die Menschen, die in seinem Buch stehen, vor Gericht vertreten. Wir treffen uns an dem Holztor zum japanischen Garten in den Marzahner Gärten der Welt.

Er trägt bernsteinfarbene Cordhosen, ein schwarzes T-Shirt, ein dunkelgrünes Wollsakko und eine Ray-Ban-Sonnenbrille mit Kunststoffrahmen; er raucht. Während wir über Felsbrocken den kleinen Hügel hochgehen, plaudert Ferdinand von Schirach über die Bedeutung der Grünanlage, die „Yuu Sui En“ heißt, „Garten des zusammenfließenden Wassers“. Die Steinchen sollen Wasser darstellen. Von den Pflanzen verstehe er nichts. „Nur, dass ich sie alle sehr schön finde – passen Sie auf, dass Sie nicht ins Wasser treten.“ Ich stehe auf einem Stein, rundherum sind viele kleine Steine. Kein Wasser weit und breit, kein echtes zumindest. Vielleicht eine Frage der Wahrnehmung. Wir gehen weiter. Ferdinand von Schirach ist offenbar häufig hier, er hat viel über diesen Ort und die Kunst des japanischen Gärtnerns gelesen, und er mag diesen Ort, der wie eine Oase inmitten der Marzahner Hochhausburgen liegt.

Die Sonne steht hoch, es ist heiß. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass es heute regnet“, sagt er. „Bei Regen ist es hier noch schöner.“ Wir gehen eine Runde durch den von hohen Hecken umgebenen Garten und setzen uns auf eine Bank unter ein Holzdach. Ferdinand von Schirach riecht nach Seife und Zigarettenrauch. Er zieht eine angebrochene Schachtel aus der Sakkoinnentasche. Am Eingang des Gartens hing ein „Rauchen verboten“-Schild. Das macht mich etwas unruhig.

Der Blick hier ist wunderschön: Wir gucken auf einen schmalen Bach, auf Bambus, Farn, einen roten Ahorn. Es ist still hier. Ich stelle mir vor, wie Regen das Dach herunterrinnt und von den Ahornblättern tropft. „Mehr braucht der Mensch nicht“, sagt Ferdinand von Schirach. Mehr nicht, nur so ein einfaches Holzhäuschen mit diesem Blick und einen kleinen japanischen Garten mit Steinen. Schlicht. Friedlich. Abgeschottet von der Welt da draußen. „Wenn ich mir etwas wünschen würde“, sagt er, „dann wäre es genau das.“ Ein Haus wie dieses? „So ein Haus, in so einem Garten. Und das am Savignyplatz.“ Wir lachen. Hinter der Hecke heult ein Rasenmäher auf. Ausgerechnet jetzt. Bei diesem Blick. Ferdinand von Schirach schüttelt den Kopf und feixt. „Dies ist der schönste Ort Berlins, also normalerweise.“

Er hat mir ein Geschenk mitgebracht: „Haiku, japanische Dreizeiler“. „Es gab einen ganz großen Haiku-Dichter, der hieß Bashu. Der wohnte tatsächlich in einer Hütte wie dieser“, erzählt er. Ferdinand von Schirach mag Dreizeiler. „Die sagen nur genau das aus, was drin steht.“ Interpretation nicht nötig, „wenn da steht, die Sonne geht unter, geht die Sonne unter, mehr nicht“. Vor langer Zeit habe er mit dem Gedanken gespielt, in ein ZenKloster zu gehen, nicht für immer, nur eine Zeit lang. Sich einfach nur auf den Moment konzentrieren und auf sich selbst. Es kam nicht dazu. Vielleicht später einmal.

Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Seine Kindheit sei „ein bisschen langweilig“ gewesen, sagt er. Vor allem, wenn die Familie auf dem Landsitz in der Nähe von Stuttgart war. Vor den Sommerferien hatte er Angst o viel Zeit und so wenig zu tun. Also las er Bücher.

Wir gucken noch immer auf den schmalen Bach hinter dem roten Ahorn. Vladimir Nabokov schrieb, zitiert Ferdinand von Schirach, dass Langeweile eine Voraussetzung für Kreativität sei. Er habe sich oft gelangweilt. Mit zehn schickten ihn seine Eltern auf ein Jesuiteninternat im Schwarzwald. Im selben Jahr starb sein Großvater. Baldur von Schirach war während der Nazizeit „Reichsjugendführer“, dann Gauleiter und „Reichsstatthalter“ von Wien. Er ließ Zehntausende österreichische Juden deportieren. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt. Auf den Fotos von damals sitzt Baldur von Schirach auf der Anklagebank hinter Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop. Er ist schlank und trägt auf manchen Bildern eine Sonnenbrille. Er hat keine augenfällige Ähnlichkeit mit seinem Enkel.

Ferdinand von Schirach sah seinen Großvater zum letzten Mal, da war er sechs Jahre alt. Zu der Zeit wusste er noch nichts über den Holocaust. „Ich mochte meinen Großvater“, sagt er. Er lenkt das Gespräch zurück zum Internat. Mehr möchte er dazu nicht sagen.

Im Internat, sagt er, war man selten allein. Ferdinand von Schirach teilte sich einen Schlafsaal mit 60 Jungen. Internat bedeutete auch, weit weg von der Familie zu sein, strengen Regeln folgen zu müssen, sich manchmal einsam zu fühlen. Gegen die Eintönigkeit dachten

sich die Jungen Blödsinn aus. Sie machten sich im Werkraum Formen aus Kunststoffmasse, die sie mit Blei ausgossen und so Fünf-MarkStücke fälschten. „Das Bundeskriminalamt verfolgte uns und konnte sich, als alles raus kam, gar nicht vorstellen, dass das tatsächlich 14Jährige waren – die Fälschungen waren so gut“, erzählt er. Er grinst. „Das war eine tolle Zeit.“ Ferdinand von Schirach mochte das In-

ternat vor allem deshalb nicht, weil es immer kalt dort war. „Im Winter war Raureif auf den Bettdecken“, erinnert er sich. „Ich wollte immer weg dort.“

Nach Internat und Bundeswehr ging er nach Bonn und studierte Rechtswissenschaften. Ihm sei „nichts Besseres eingefallen“. Eigentlich hätte ihn Geschichte mehr interessiert. Aber er habe große Angst davor gehabt, später nicht genug Geld zu verdienen. Auch die Studienzeit sei „grässlich“ gewesen. Vielleicht ist das Koketterie, es hört sich an, als ob Ferdinand von Schirach bislang kaum Spaß hatte in seinem Leben. Vielleicht ist er aber

auch einfach schwer zufriedenzustellen. Jedenfalls nervten ihn überfüllte Hörsäle, fehlende Bücher in der Bibliothek und die Leute, „die damals schon gute Anzüge anhatten, sehr fein waren und alles besser wussten als ich“. Frei habe er sich nicht gefühlt, dazu habe er zu wenig Geld gehabt.

1994 ging er nach Berlin an das Kammergericht. „Hier gab es die interessantesten Prozesse.“ Gegen die SED-Führungsriege vor allem. Er wollte dabei sein und Karriere machen. Beides schaffte er. Sein erster Eindruck von der Stadt: „Die Frauen waren wahnsinnig hässlich.“ Außerdem schmeckte ihm das Brot nicht. „Aber ansonsten fand ich Berlin ganz toll und viel aufregender als München.“ Als Referendar des prominenten Anwalts Nicolas Becker durfte er beim Verfahren gegen Erich Honecker zuschauen, 1995 war er dann selbst Verteidiger: Er übernahm das Mandat von SEDFunktionär Günter Schabowski.

Wir wechseln den Blickpunkt und setzen uns auf die andere Seite des Holzhäuschens. Ferdinand von Schirach hat noch immer die unangezündete Zigarette in der Hand. Die Aufpasser des japanischen Gartens drehen ihre Runden und gucken unfreundlich, ich bin erleichtert, dass er nicht raucht. Vor uns ist jetzt eine Art Beet aus kleinen Steinchen, die jemand zu konzentrischen Kreisen geharkt hat. „Wunderschön, oder?“, sagt Ferdinand von Schirach. „Stellen Sie sich mal vor, hier hätte man seinen Schreibtisch. Da würde man doch ganz andere Bücher schreiben.“

„Verbrechen“, sein Buch, das sofort auf der „Spiegel“-Bestsellerliste landete, ist ziemlich düster. Es sind alles wahre Geschichten. Die von Herrn Fähner zum Beispiel. Nach 40 Ehejahren erschlug der seine Frau mit einer Axt, zerlegte sie, im Keller stand zentimeterhoch das Blut. Dann rief er die Polizei, er sagte: „Ich habe Ingrid klein gemacht. Kommen Sie sofort.“ Ferdinand von Schirach hat es so aufgeschrieben, wie es war, ohne Schnörkel. Er mag Klarheit.

Er sagt, er verteidige immer nur den Menschen, nicht die Tat. Aber ist der Mensch nicht, was er tut? „Im Strafrecht ist es so, dass wir beide Dinge betrachten: die Tat und die Schuld, die dahinter steht. Das sind zwei verschiedene Dinge.“ Zwei Menschen können das Gleiche tun, aus unterschiedlichen Gründen. Diese müssen vor Gericht berücksichtigt werden.

Wir stehen auf und gehen ein Stück. Ferdinand von Schirach steckt sich die Zigarette in den Mund und kramt nach seinem Feuerzeug. Was muss passieren, dass

ein Mann seine Frau zerstückelt? Dass ein Mensch zum Verbrecher wird? Man müsse sich das Gefühl vorstellen, das man bei einem schlimmen Streit mit dem Partner hat, sagt er. „Sie schreien ihn an, sind richtig wütend. Der nächste Schritt wäre, Sie geben ihm eine Ohrfeige, weil Sie so außer sich sind.“ Von der Ohrfeige zu einer Schere, die man dem anderen in den Hals rammt, sei der Schritt zwar relativ groß, „bei Menschen, die Schwierigkeiten haben, Gefühle verbal auszudrücken, kann es in so einer Situation zum Verbrechen kommen.“

Ferdinand von Schirach hat viele Verbrecher kennengelernt. 700 bis 800 Verfahren hat der 45-Jährige geführt. Er sieht Berlin jetzt anders als 1994, als er herkam. Heute fährt er durch die Straßen und sieht Häuser, in denen Morde passierten, Ecken, in denen Leichen gefunden wurden. „Das hat mich am Anfang sehr beschäftigt und mitgenommen“, sagt er. Anfangs, mittlerweile nicht mehr.

Der liebe Großvater ein Kriegsverbrecher, der nette Rentner von nebenan ein Axtmörder, der japanische Geschäftsmann ein Mafiamitglied – die Wirklichkeit hat manchmal zwei Seiten. Die Wahrheit ist manchmal eine ganz andere. In seinem Buch zitiert Ferdinand von Schirach den Physiker und Nobelpreisträger Werner Karl Heisenberg: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich.“ Vor Gericht, erzählt er, gehe es immer nur um eine Theorie, nach der etwas so und so gewesen sein könnte.

Er ist gerne der Verteidiger, Strafrecht sei „etwas vollkommen Elementares. Es geht darum, ob jemand Schuld auf sich geladen hat und ob man ihn dafür verantwortlich machen kann. Es ist immer die Frage nach dem Menschen.“ Die Taten seiner Mandanten ängstigen ihn nicht. „Ich finde nicht, dass man über den Menschen erschrecken muss“, sagt er. Ferdinand von Schirach weiß mehr als viele andere, diese Menschen offenbaren sich ihm.

1995, als er das Mandat von Günter Schabowski übernahm, von dem Mann, der am 9. November 1989 auf einer Pressekonferenz die neue Reiseregelung für DDR-Bürger verlas, erinnerte ihn das an die Nürnberger Prozesse. Und an seinen Großvater. Er verteidigte jemanden, der in einem untergegangenen System Schuld auf sich geladen hatte. Ferdinand von Schirach sah das damals anders, musste es anders sehen, heute sagt er: „Es gibt noch ein Gesetz über dem geschriebenen, so eine Art ‚Common Sense‘, wir haben das Naturrecht genannt.“ Der Bundesgerichtshof sagte damals: Auf jemanden zu schießen, der nichts anderes will, als sein Land zu verlassen, das muss immer verboten sein.

Wir sind wieder an der Holzpforte. Ferdinand von Schirach zündet die Zigarette an, zieht fast erleichtert daran. „Sind Sie glücklich?“

„Zufrieden. Glücklich ist so ein kurzer Zustand. Wir haben immer nur diese eine Minute, sagt Mark Aurel, mehr ist es ja nicht.“

 

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