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Gegen das Vergessen

Serpil Unvar hält ein Plakat mit dem Namen ihres getöteten Sohnes FerhatBildungsinitiative Ferhat Unvar

Der Rechtsterrorist von Hanau erschoss am 19. Februar 2020 ihren Sohn Ferhat. Serpil Temiz Unvar nutzt die Kraft ihres Schmerzes, um sich gegen Rassismus einzusetzen und gegen das Vergessen anzukämpfen.

In Serpil Temiz Unvars Twitter-Profil gibt es einen angehefteten Tweet vom November 2021, den alle Profilbesucher*innen zuerst angezeigt bekommen. Darin heißt es: „Mein Sohn, heute wärst du 25 Jahre alt geworden. Du hast geschrieben ,Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.‘ Ich schwöre dir, ich werde das niemals zulassen.“ Ihr Sohn Ferhat Unvar wurde bei dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 getötet. Serpil Temiz Unvar kämpft seither jeden Tag dafür, dass er und die anderen Opfer nicht vergessen werden.

Der Täter war damals durch die hessische 100.000 Seelen-Stadt Hanau gezogen und hatte neun Menschen erschossen, anschließend tötete er seine eigene Mutter und sich selbst. War Hanau vorher bekannt für die Gebrüder Grimm, die „Deutsche Märchenstraße“, die sich bis nach Bremen zieht, oder für das jährliche Apfelweinfest im Schlosshof, ist der Name nun für immer verbunden mit dem rechtsextremen Terror: Der Täter hinterließ Pamphlete mit Verschwörungsmythen und rassistischen Äußerungen.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags dazu tagt weiterhin, er soll vor allem die sicherheitspolitische Dimension aufklären. Im Juli 2021 kamen Angehörige der Ermordeten vor den Ausschussabgeordneten zu Wort. Für Temiz Unvar sind es bis heute die vielen ungeklärten Fragen, die sie nicht schlafen lassen: Warum blieben Notrufe in jener Nacht unbeantwortet? Warum kam die Polizei erst so spät zum Tatort? Warum hat niemand ihrem sterbenden Kind geholfen, ihr nicht Bescheid gesagt?

„Er hat anderen Kraft gegeben“

Ferhat Unvar war an dem Abend erst im Jugendzentrum gewesen und dann zu seinem Stammkiosk gegangen. Der Täter feuerte in den Kiosk, Ferhat Unvar wurde von einer Kugel getroffen, schleppte sich offenbar noch hinter den Tresen und starb dort Stunden später an seiner Verletzung. Er war 23 Jahre alt.

Für Eltern, die ihre Kinder überleben, gibt es wohl keinen Trost. Temiz Unvar hilft es immerhin, von ihrem Sohn zu erzählen. „Ferhat war ein tiefgründiger Mensch“, sagt sie. Er habe viel gelesen, schon als Zwölfjähriger Dostojewskis „Schuld und Sühne“. „Er fragte viel, er hat immer viel gedacht. Er wusste, dass er mehr tun muss, in der Schule besser sein muss als die deutschen Kinder, um eine Chance zu haben.“

Ferhat sei hilfsbereit gewesen, nach seinem Tod habe sie Besuch bekommen von vielen Jugendlichen aus Hanau. „Sie erzählten mir, dass sie wegen Ferhat weiter zur Schule gegangen seien“, erzählt Temiz Unvar. Er habe anderen Kraft gegeben. Und das gibt auch ihr Kraft. „Wenn er das konnte, möchte ich das für ihn weiter tun“, sagt sie. An seinem Geburtstag gründete sie die Bildungsinitiative „Ferhat Unvar“, die sich um Jugendliche kümmert und gegen Rassismus engagiert. Ganz egal, wo sie sei, auf Treffen mit Politiker*innen, im Jugendzentrum oder bei Kulturveranstaltungen – sie erzähle von Ferhat und kläre über Rassismus auf. „Wir berichten aus der Betroffenenperspektive, dieser Blick fehlte bislang.“

Weiterleben mit dem Schmerz

Serpil Temiz Unvar ist Mitte 40. Sie hat sieben ältere Geschwister, ihr genaues Geburtsdatum kennt sie nicht, da sie zu Hause entbunden wurde und in ihrer kurdischen Heimatstadt im Süden der Türkei die Daten nicht offiziell vermerkt wurden. Viele Einwanderer*innen aus solchen Regionen geben als Geburtsdatum oft einfach den 1. Januar an. Temiz Unvar ging erst mit ihrem Vater nach Paris, 1995 wurde sie dann in Deutschland verheiratet. Sie ließ als Geburtsdatum den 6. Juni eintragen. Sie bekam vier Kinder. Nach der Trennung von ihrem Mann zog sie die Kinder allein auf.

In der Nacht des Anschlags fuhr sie zum Tatort, zeigte Ferhats Foto, fragte, ob ihn jemand gesehen habe. „Es hieß: Nein, so einer liegt dort nicht“, erinnert sie sich. Freundinnen und sie telefonierten alle Krankenhäuser ab, weil sie Ferhat nicht erreichen konnte. Am nächsten Morgen kam jemand zu den in einer Turnhalle wartenden Angehörigen. „Er rief die Namen der Getöteten auf. Der letzte Name war Ferhat.“

Sie habe sofort zu ihm gewollt, dachte immer noch, er sei im Krankenhaus. „Aber er lag nach mehr als 20 Stunden noch immer im Kiosk!“ Das Bild von ihrem Kind dort auf dem kalten Boden, nur wenige Hundert Meter entfernt von ihr, das gehe ihr nicht aus dem Kopf. Temiz Unvar erinnert sich an den Moment: „Ich dachte, ich muss sterben, ich wollte mich selber töten“, sagt sie. „Wie sollte ich mit diesem Schmerz weiterleben?“

Sie hat sich entschieden, es zu versuchen. Für Ferhats Geschwister. Für Ferhat: „Er sagte immer, ‚Mama, das Leben ist nicht einfach, aber wir müssen weitermachen!’. Also mache ich seinen Kampf weiter.“ Temiz Unvar ist jetzt eines der Gesichter der Hinterbliebenen, eine ihrer Stimmen.

Zusammen ist man stärker

Die Eltern haben sich zusammengetan, sie haben Räume angemietet und einen Verein gegründet. Sie erklären: „Unsere Kraft schöpfen wir aus unserer Gemeinschaft.“ Zum Jahrestag kam Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) zu Besuch. 2021 erhielten Temiz Unvars Bildungsinitiative und ein zweites Angehörigen-Projekt – die Initiative „19. Februar Hanau“ – den Aachener Friedenspreis.

Der neuen Bundesregierung schrieb sie Anfang 2022 einen offenen Brief. Im Namen aller Hinterbliebenen forderte sie Konsequenzen: strengere Waffenkontrollen, stärkeres Engagement gegen Rechtsextremismus. Immer, wenn jemand fragt, sagt sie: „Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss der Anfang sein von etwas Neuem.“ Die Angehörigen fordern die lückenlose Aufklärung der Tat. „Wir alle müssen zusammen daran arbeiten, dass so etwas nicht wieder passiert“, sagt Temiz Unvar. Was sie erlebt haben, sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Täter hatte Vorbilder und sich von rechten Strömungen, auch im Internet, ermutigt gefühlt.

Die Zahlen geben ihr Recht. Laut Verfassungsschutzbericht für 2021, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, im Juni dieses Jahres vorstellten, geht die größte extremistische Bedrohung in Deutschland von Rechtsextremist*innen aus.

Mehr als 20.000 Straftaten in dem Bereich wurden in dem Jahr registriert; die Zahl der Rechtsextremist*innen liegt demnach bei knapp 34.000, gut ein Drittel davon gilt als gewaltbereit. Zum Vergleich: Der Verfassungsschutz wertete rund 6.000 Straftaten als linksextremistisch motiviert und gibt die Zahl gewaltbereiter Linksextremist*innen mit 10.300 an.

Kampf gegen Windmühlen

Noch in diesem Jahr wollen Bundesfamilien- und Bundesinnenministerium das neue „Demokratiefördergesetz“ vorlegen. Das könnte zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der von Temiz Unvar helfen, weil sie eine langfristigere finanzielle Absicherung bekommen sollen. Doch das scheint nicht genug: In einem Interview anlässlich des Jahrestags der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen sagte Temiz Unvar der Tageszeitung „taz“, dass sie sich von Verantwortlichen nicht ernst genommen fühle.

„Viele von den Politikern kommen bei uns vorbei für ein Foto, lächeln in die Kamera und dann gehen sie wieder. Was soll das? Ich hatte einen Termin beim Opferbeauftragten der Bundesregierung. Eine Mitarbeiterin sagte, ich solle doch froh sein über das Geld – mein Sohn hätte ja auch bei einem Autounfall sterben können, dann hätte ich nichts bekommen.“ Die Hinterbliebenen haben sogenannte „Härteleistungen für Opfer terroristischer und extremistischer Anschläge“ erhalten, die für solche Fälle vorgesehen sind.

Ihr Kampf ist oft einer gegen Windmühlen. Hanaus Oberbürgermeister versprach bei der Gedenkfeier zwei Jahre nach dem Anschlag: „Wir wollen und werden dauerhaft an die Opfer erinnern und ihrer gedenken.“ Doch bei der Frage, an welchem öffentlichen Ort das getan werden soll, stimmte die Stadtversammlung dagegen, ein Denkmal auf dem Marktplatz zu schaffen. Temiz Unvar fragt sich seither, was die vielen Versprechen und verständnisvollen Worte bedeuten, wenn keine Taten folgen. Ihrer Meinung nach müsse die ganze Gesellschaft Verantwortung übernehmen.

Ob zu wenig gegen Rassismus und rechten Terror unternommen wird, ist neben der Aufklärung der Einsatzpannen und der Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können, einer der Hauptpunkte, die der hessische Untersuchungsausschuss klären soll. Seine Arbeit könnte Ende 2022 abgeschlossen sein.

Das frühere Leben ist passé

Unter den Angehörigen von Hanau sind derweil enge Freundschaften entstanden. Temiz Unvar erzählt, dass die Kinder teilweise seit der Kindergartenzeit befreundet gewesen seien und dass nur diese Eltern sie verstehen könnten. Sie fühlten sich gemeinsam dafür verantwortlich, dass die Namen ihrer Kinder nicht in Vergessenheit gerieten. Dabei ist ihr klar: Ferhat wird nicht wiederkommen. Sie hätte allen Grund gehabt, die Gesellschaft, Hanau, ihr Leben – einfach alles – zu verachten und bitter zu werden. Aber ihre Wut und ihre Trauer hat sie in etwas Positives umgekehrt.

„Ich glaube, meine Kraft sind die Schmerzen, die sind so groß“, sagt sie. „Ich kann nicht sterben, nicht leben – nur kämpfen.“ Serpil, ihr Vorname, lässt sich übersetzen mit „Die immer Wachsende“. Es scheint so, als ob Serpil Temiz Unvar seit zweieinhalb Jahren jeden Tag über sich hinauswächst. Und doch ist ihr Familienleben seit Ferhats Tod ein anderes. Ihr jüngster Sohn ist jetzt neun Jahre alt. Sie spürt, wie auch er unter dem Verlust seines älteren Bruders leidet, aber sie sprechen nur selten darüber. Sie sagt, das schmerze sie zu sehr. Frühere Freundschaften seien zerbrochen, weil es „nicht mehr passte“. Der Grund: „Alle haben ihr normales Leben, nur ich nicht. Auch wir waren ganz normale Menschen, jetzt ist nichts mehr wie früher.“ Der Vater des Täters sei noch immer ihr Nachbar, erzählt sie. Sie halte sich von ihm fern. Sie kann sich schwer konzentrieren, schläft schlecht. In ihren Träumen spricht sie manchmal mit Ferhat. „Ich hätte ihm noch so viel sagen müssen. Ich dachte immer, wir haben noch so viel Zeit.“ Therapeut*innen hätten ihr nicht helfen können, sagt sie. Denn niemand kann ihr die Frage nach dem „Warum?“ beantworten, die sie seit dem 19. Februar 2020 umtreibt.

Dieser Artikel erschien im Magazin von Deine Korrespondentin