Magazin, Porträt

Viva con Agua! Scheitern als Chance

Foto: Pascal Bünning / Viva con Agua

Benjamin Adrion war ein erfolgreicher Fußball-Profi, als eine Verletzung seine Karriere jäh beendete. Er nahm das Scheitern als Chance – und nutzte seine Popularität für ein großes Ziel.

Benjamin Adrion lebte den Traum vieler Freizeitkicker: Aufgewachsen in einer Fußballerfamilie, sein Vater spielte als Profi unter anderem beim VfB Stuttgart, konnte der heute 35-Jährige sein Hobby als einer der wenigen zum Beruf machen und stieg aus der Jugendmannschaft des VfB Stuttgart in die Regionalliga auf. Er wechselte zur Braunschweiger Eintracht und 2004 schließlich zum Hamburger Kiezclub FC St. Pauli. Er hätte einer dieser typischen Profifußballer werden können, mit dickem Konto und noch dickerem Auto, bejubelt von Fans und umworben von den Erstliga-Vereinen der Republik. Doch dann passierte der Albtraum: Adrion verletzte sich schwer.

Während manche seiner Kollegen an solchen Verletzungen und den damit oft einhergehenden Karriereknicks verzweifelten, nutzte Adrion die Krise als Chance. Erst kurz zuvor, im Winter 2005, war er mit der Mannschaft des FC St. Pauli vom Trainingslager auf Kuba einerseits begeistert von der Lebensfreude, andererseits zum Handeln motiviert, um die schlechte Trinkwasserversorgung zu ändern. Die erschreckenden Fakten, die er damals recherchierte: 1,2 Milliarden Menschen auf der Erde lebten ohne Zugang zu sauberem Wasser, fast doppelt so viele ohne sanitäre Basisversorgung. „In vielen Ländern der Welt ist sauberes Wasser ein knappes Gut, das vergisst man hier oft   in Deutschland drehen wir einfach den Wasserhahn auf und trinken, spülen ja sogar unsere Toiletten mit Trinkwasser“, sagt Adrion. Es passte dann letztendlich ganz gut, dass sein Vertrag in der ersten Mannschaft des FC St. Pauli nicht verlängert wurde und er nach einem kurzen Intermezzo in der zweiten Mannschaft 2008 seine Karriere als Profi endgültig an den Nagel hängte. Stattdessen kümmerte er sich um die Vereinsgründung und organisierte die erste Äthiopienreise, um einen von „Viva con Agua“ unterstützten Brunnen zu bauen.

Seitdem ist viel passiert: Mittlerweile werden von Hamburg aus in mehreren Regionen des ostafrikanischen Landes Projekte für sauberes Trinkwasser und verbesserte sanitäre Anlagen, Hygiene-Kampagnen und die Überwachung und Wartung bestehender Wassersysteme unterstützt. Es gibt Schulprojekte wie das in der Stadt Bahir Dar im Norden des Landes, um täglich die Kinder zu versorgen. Und es sind langjährige Kooperationen, Partnerschaften und auch Freundschaften gewachsen. Dennoch haben aktuell immer noch nur gut 57 Prozent der äthiopischen Bevölkerung Anschluss an eine Trinkwasserversorgung.

Dabei ist Wasser die Voraussetzung für jegliche Entwicklungsmöglichkeit. In diesem Jahr reiste der Musiker Clueso, der „Viva con Agua“ seit neun Jahren unterstützt, nach Äthiopien, um sich ein Bild vom Stand der Dinge vor Ort zu machen. Die Gruppe besuchte sowohl bestehende Projekte als auch mögliche Regionen für künftige Projekte und veranstaltete mithilfe von äthiopischen Künstlern Jamsessions und Konzerte zugunsten der Menschen vor Ort. Clueso komponierte und produzierte gemeinsam mit dem Musiker Samuel Yirga aus Addis Abeba noch auf der Reise mit „Aand nen – We Are One“ einen neuen Song, der als Single erschienen und zugunsten von „Viva con Agua“ zu kaufen ist.

Im Gegensatz zu anderen Hilfsorganisationen, die mit mitleiderregenden Fotos von traurigen afrikanischen Kindern um Spenden werben, wollten die Macher von „Viva con Agua“ von Anfang an auf Augenhöhe mit den Betroffenen arbeiten, mit Spaß und einer positiven, optimistischen Einstellung. Vielleicht auch deshalb engagieren sich für „Viva con Agua“ vor allem jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Nicht nur dank prominenter Unterstützer aus Musik, Kunst und Sport bekommen die Anliegen des Vereins inzwischen viel Aufmerksamkeit. Zugunsten von „Viva con Agua“ werden bundesweit Spendenläufe, Benefizkonzerte und Fußballturniere veranstaltet oder international besuchte Kunstgalerien aus dem Boden gezimmert. Ehrenamtliche sammeln auf Festivals Becher in großen Mengen und spenden das Becherpfand. Keine Idee ist zu klein, keine Vision zu groß.

Auch Adrion selbst rührt weiterhin die Werbetrommel bei jeder Gelegenheit und kämpft für eine Welt ohne Durst. Er genieße den persönlichen Kontakt zu den Menschen vor Ort, die regelmäßigen Reisen zu bestehenden und neuen Projekten, sagt er. Die Eindrücke aus Kuba und Äthiopien damals wie auch die vielen weiteren Eindrücke, die er in Uganda, Kenia, Indien und Nepal gewinnen konnte, geben ihm die Kraft, immer weiterzumachen. Er ist der Netzwerker im Verein und mittlerweile ein gefragter Redner für Veranstaltungen jeglicher Art. 2009 erhielt Adrion stellvertretend für den Verein das Bundesverdienstkreuz am Bande. Mittlerweile fußt „Viva con Agua“   Leitspruch: „Alle für Wasser – Wasser für alle“ auf mehreren starken Pfeilern. 2010 folgten die Gründung einer Stiftung sowie der Viva con Agua Wasser GmbH, die mehrheitlich dem Verein und der Stiftung gehört. Auch das unternehmenseigene Mineralwasser, das in  Gastronomiebetrieben und von Getränkehändlern in ganz Deutschland und bald auch in der Schweiz verkauft wird, ist Einnahmequelle und Botschafter für die hehren Ziele des Vereins. Anteilig werden Erlöse vom Verkauf jeder Flasche sowie alle Gewinne in Projekte investiert. Ein Jahrzehnt nach der Gründung gibt es Dependancen von „Viva con Agua“ auch in Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Seit 2014 ist die Goldeimer GmbH ein weiteres Projekt im „Viva con Agua“-Kosmos.

Laut Selbstbeschreibung hat es „die Aktivierung der Zivilgesellschaft für globale und nachhaltige Entwicklung im Bereich WASH – Wasserversorgung, Sanitäranlagen, Hygiene“ zum Ziel. Die Goldeimer-Crew betreibt unter anderem Kompost-Sanitäranlagen auf Musikfestivals und anderen Großevents. Dabei war das Wachsen nicht so einfach, wie es klingt. Denn dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht unbedingt als Start-up-freundlich gilt, haben auch die Hamburger am eigenen Leib erleben müssen. Die Gründungen seien mitunter schwierig gewesen. „Das war hochkomplex, wir saßen sieben Anwälten gegenüber, und ich habe nur Bahnhof verstanden, glücklicherweise hatten wir gute Berater an unserer Seite“, erinnert sich Adrion. Dazu kommt, dass Ex-Profifußballer eben nicht unbedingt Ahnung von den kaufmännischen und juristischen Details haben. Dieses Defizit hat er jüngst mit einem Abschluss in International Management ausgeglichen.

Alles ist möglich, daran glauben die Wassermacher. „Viva con Agua“ ist nicht nur für Adrion „wie ein Familienunternehmen, in dem viele Freunde gemeinsam an einer guten Sache arbeiten“. Die Familie ist auf rund 15 Angestellte im deutschen Verein und elf Mitarbeiter in der Wasser GmbH gewachsen, das Netzwerk der rund 12.000 Freiwilligen umspannt die ganze Welt. Stetige Kommunikation, sagt Adrion, sei deshalb ungemein wichtig. „Und mit Problemen offen umzugehen und auch mal Fehler zuzulassen.“ Einer für alle, alle für einen. Denn: „Allein funktioniert es nicht, jede gute Idee braucht ein gutes Team, das sie umsetzt.“ Und: „Expertise, die man nicht selbst hat, sollte man sich extern holen.“ Deshalb setze „Viva con Agua“ dabei auch immer auf langfristige, nachhaltige Partnerschaften.

Die Zahlen der vergleichsweise kleinen Non-Profit-Organisation können sich sehen lassen: 13,6 Millionen verkaufte Mineralwasser-Flaschen und 1,3 Millionen Euro Spenden im vergangenen Jahr. 1,8 Millionen Menschen, so die Bilanz, sollen seit der Gründung von den realisierten Wasserprojekten profitiert haben. „Die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser hat sich fast halbiert, heute sind es noch etwa 663 Millionen Menschen“, bilanziert Adrion. Benjamin Adrion hat an den Erfolgen von „Viva con Agua“ einen maßgeblichen Anteil. Er ist nicht bloß Schirmherr wie viele andere Promis, die ihren Namen für soziale Projekte geben, sondern als Geschäftsführer und ehrenamtlicher Vorstand operativ tätig. Er arbeitet aktiv dafür, den Traum von einer besseren Welt, in der zumindest die Trinkwasser- und Sanitärversorgung jedes Menschen gewährleistet ist, wahr zu machen. Damit ist ihm gelungen, was nicht vielen ehemaligen Fußballprofis glückt: ein erfülltes Berufsleben nach dem Sport.