Interview, Magazin

„Der Missbrauch war systematisch geplant“

Foto: Jörg Krauthöfer

Sexueller Missbrauch an katholischen Institutionen: Jesuiten-Mediatorin Ursula Raue über Scham, nicht verheilende Wunden und den Versuch der Vermittlung zwischen Tätern und Opfern.

Jahrzehntelang wurde über den Missbrauch an der Berliner Elite-Schule Canisius-Kolleg geschwiegen. Doch nach der Aufdeckung der Vorfälle durch ein Team der Berliner Morgenpost melden sich immer mehr ehemalige Schüler und berichten von sexuellen Übergriffen. Dabei wird klar: Die beschuldigten Pater gingen planvoll vor.

Schon lange bevor die Vorfälle am Canisius-Kolleg in Tiergarten bekannt wurden, hatte der Jesuitenorden die Berliner Rechtsanwältin und Mediatorin Ursula Raue zur externen Ansprechpartnerin für Opfer sexuellen Missbrauchs durch Jesuiten oder Angestellte des Ordens gemacht. Sie soll zwischen Tätern und Opfern vermitteln. Diese Aufgabe hat plötzlich an Brisanz gewonnen. Mit ihr sprach Anne Klesse.

Frau Raue, wann haben Sie erfahren, dass es in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch am Canisius-Kolleg gab?

In der Ordenszeitschrift „Jesuiten intern“ ist im vergangenen Dezember ein Aufsatz zum Thema Kindesmissbrauch von mir erschienen. Der Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, hat den Artikel nach den Weihnachtsferien an die Eltern der aktuellen Schülerschaft geschickt. Daraufhin meldeten sich sowohl bei ihm als auch bei mir mehrere ehemalige Schüler. Sie erzählten, dass sie das, was ich in dem Artikel beschrieben habe, selbst erlebt haben. Das sei in den 70er-Jahren am Canisius-Kolleg gewesen.

Von wie vielen Betroffenen gehen Sie denn aus?

Sind damals ausschließlich Jungen betroffen gewesen?

Nein, es hat sich auch eine Frau bei mir gemeldet. Allen gemein ist, dass sie etwas erlebt haben, das ihnen eine bis heute nicht verheilte Wunde zugefügt hat.

Was genau ist damals passiert?

Im Einzelnen kann ich das zurzeit nicht sagen. Meine Funktion ist die der Mediatorin, ich habe allen Beteiligten Vertraulichkeit zugesichert. Für den Moment gehen wir davon aus, dass es keinen schweren Missbrauch gegeben hat. Es geht es um sexuelle Übergriffe. Die Rede ist unter anderem von unangenehmen sexuellen Berührungen und von Selbstbefriedigung.

In welchem Alter waren die Opfer damals?

Die, von denen wir wissen, waren damals Pubertierende.

Nachdem sich die ersten Opfer bei Ihnen gemeldet hatten, verschickte Pater Mertes ein Entschuldigungsschreiben an die potenziell betroffenen Jahrgänge…

Ja, nach den ersten Gesprächen mit Opfern war Pater Mertes der Meinung, man müsse etwas tun. Eine öffentliche Entschuldigung an die betroffenen Schülerjahrgänge könne den Opfern unter ihnen helfen. Danach stand das Telefon nicht mehr still. Es hieß auch, dass am Canisius-Kolleg schon in den 60er-Jahren Missbrauch stattgefunden haben soll.

In seinem Brief schrieb Pater Mertes: „Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen.“ Was bedeutet in diesem Zusammenhang „systematisch“?

Ich verstehe darunter, dass der Missbrauch geplant stattgefunden hat. Dass es so eingerichtet wurde, immer mal wieder mit einem Schüler allein zu sein.

Warum ist das alles erst jetzt, Jahrzehnte später, publik geworden? Warum hat sich keiner der Jugendlichen vorher jemandem anvertraut?

In den Gesprächen jetzt wurde immer wieder deutlich, welch große Rolle die Scham spielt. Die Übergriffe beschäftigen die Opfer bis heute. Aber viele hatten bis jetzt mit niemandem darüber gesprochen. Bei Kindern und Jugendlichen ist das Schamgefühl stark ausgeprägt. Viele haben auch Schuldgefühle, sie denken: Ach, irgendwie habe ich ja auch mitgemacht. Die Opfer sind unsicher, auch über ihre eigenen Gefühle. Was alle gesagt haben: Die Situationen hätten sie damals als eklig und unangenehm empfunden.

Spielte der Glauben eine Rolle, die Angst, die Jesuitengemeinschaft und die Schule in Verruf zu bringen?

Explizit hat das niemand gesagt. Eher das Gefühl, selbst auch mitgemacht zu haben, sich nicht gewehrt, nichts dagegen unternommen zu haben.

Wurde auch Druck über die Notenvergabe ausgeübt? Dass gedroht wurde: Wenn jemand davon erfährt, gibt es ein schlechtes Zeugnis?

Davon weiß ich nichts.

Als Beauftragte des Ordens für Missbrauchsopfer sollen Sie nun zwischen Tätern und Opfern vermitteln. Wie wollen Sie das tun?

Wie schon gesagt, wurden als Täter vor allem zwei Namen immer wieder genannt. Die beiden mittlerweile älteren Herren habe ich angeschrieben und mit den Vorwürfen konfrontiert. Ich finde es wichtig, ins Gespräch zu kommen, um klarzumachen, was die Opfer damals empfunden haben – und bis heute empfinden.

Und wie haben die Männer reagiert?

Ich halte Kontakt sowohl zu den Opfern als auch zu den Tätern. Die Situationen, um die es geht, beschreiben beide Seiten gleich – die objektiven Fakten stimmen also im Wesentlichen überein. Unterschiedlich sind jedoch deren Beurteilung und Wahrnehmung.

Wenn die Fakten unstrittig sind, wie rechtfertigen die ehemaligen Jesuiten-Pater die sexuelle Gewalt, die sie den Schülern angetan haben?

Das ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen. Aber man muss sehen, das sind Männer, die in Kriegs- und Nachkriegszeiten sozialisiert wurden. Gewalt, zum Beispiel die Prügelstrafe, war in den 50er-Jahren Bestandteil der Erziehung in der Schule. Damals war man noch nicht so sensibilisiert wie heute, was Gewalt bei Kindern und Jugendlichen bewirkt. Das ist keine Entschuldigung, aber vielleicht mit ein Grund für das Verhalten der Täter.

Wie geht es jetzt weiter?

Meine Funktion ist es, den Tätern die Wahrnehmung der Opfer zu vermitteln, sie zum Nachdenken zu bringen und das eigene Handeln zu überdenken. Das kann manchmal eine Weile dauern. In einem anderen Fall habe ich mal erlebt, dass der Täter seine Schuld eingesehen und einen Brief an das Opfer geschrieben hat, in dem er sich entschuldigte.

Ist es denn das, was die Opfer wollen – eine Entschuldigung? Würde die nicht bloß dem Täter helfen, sein Gewissen zu erleichtern?

Ich glaube, wenn die Entschuldigung ernst gemeint und substanziell ist, dann kann sie auf jeden Fall eine Hilfe sein, das Geschehene zu verarbeiten und damit weiterzuleben. Wahrzunehmen, dass sexueller Missbrauch zu einer Verletzung führen kann, die ein Leben lang nicht heilt, das ist wichtig.

Was bedeuten die jetzt bekannt gewordenen Fälle für die Zukunft des Canisius-Kollegs?

Das kann man jetzt noch nicht sagen. Strafrechtlich sind diese Fälle verjährt. Sexueller Missbrauch verjährt zehn Jahre, nachdem das Opfer sein 18. Lebensjahr vollendet hat, schwerer sexueller Missbrauch 20 Jahre danach. Die jüngsten Opfer, die mir in diesem Fall bekannt sind, sind mittlerweile 45 Jahre alt. Es geht jetzt also eher um die Wahrnehmung. Und um Zukunft. Die Opfer sollen ohne Scham oder Schuldgefühle leben, die Täter ihre Fehler einsehen. Wir müssen überlegen, welche Strukturen die Übergriffe begünstigt haben, wieweit sie heute noch existieren und verändert werden müssen. Wir werden Missbrauch nicht verhindern können, aber man kann das Risiko minimieren, indem man Menschen sensibilisiert. Dazu gehört, Kinder zu starken Persönlichkeiten zu erziehen, die ernst genommen werden, sich wehren können. Dazu kann auch gehören, sich mit potenziellen Tätern auseinanderzusetzen. Menschen mit pädophilen oder ephebophilen Neigungen können lernen, mit ihrer Veranlagung verantwortlich umzugehen. Wichtig ist dabei das Wissen um das Leid der Opfer.

 

Das Interview erschien in Folge der Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg durch ein Reporter-Team der Berliner Morgenpost, zu der Anne Klesse gehörte. Für die Berichterstattung erhielten Anne Klesse und ihre Kolleginnen und Kollegen den renommierten Wächterpreis der Tagespresse.