Alnatura-Gründer Götz Rehn über Gewinnmaximierung, Sinnhaftigkeit und Umweltschutz – und wie sich alles drei wirtschaftlich vereinbaren lässt.
In einem unauffälligen Bau am Eingang des 600-Seelen-Ortes Bickenbach im hessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg wird an nichts geringerem gearbeitet als an der Verbesserung der Welt. Inmitten von grünen Feldern zwischen Oberrheinischer Tiefebene und Odenwald firmiert das Unternehmen Alnatura.
Während etliche Mitarbeiter an diesem spätsommerlichen Tag auf der Terrasse oder im angrenzenden Naturgarten an ihren Laptops und Smartphones arbeiten, empfängt Götz Rehn, Geschäftsführer des 1984 gegründeten Unternehmens für biologisch produzierte Lebensmittel und Textilien, im Konferenzraum des lichten Gebäudes. Der 67-Jährige fällt nicht nur durch seine großgewachsene Statur auf, er ist auch einer der wenigen Anzugträger. Fragen beantwortet er ruhig und konzentriert.
Herr Dr. Rehn, das Motto von Alnatura ist „Sinnvoll für Mensch und Erde“. War es schwierig, seit Eröffnung Ihrer ersten Filiale vor 30 Jahren diesem Leitspruch stets gerecht zu werden?
„Sinnvoll für Mensch und Erde“ war von Anfang an Ausgangspunkt und Ziel all unseres Denkens und Handelns. Wir haben den Anspruch, Sinnvolles zu tun, im Kleinen wie im Großen. Was ist der Sinn der Wirtschaft? Nach unserem Verständnis gehört dazu nicht, die Menschen zu benutzen, um Erträge zu erwirtschaften, sondern den Menschen in seiner Entwicklung zu unterstützen. Daraus abgeleitet ist das Ziel unseres Unternehmens nicht die Erfolgsmaximierung, sondern die Sinnmaximierung. Das betriebswirtschaftliche Ergebnis ist das Resultat unseres wirtschaftlichen und sonstigen Tuns, das immer im Einklang mit der Natur stehen und dem Menschen dienen sollte. Das haben wir bisher ganz gut hinbekommen.
Ihr Erfolg ist auch in Zahlen messbar: 2920 Mitarbeiter, 762 Millionen Euro Jahresumsatz. Nach Eröffnung der ersten Alnatura-Filiale in Mannheim vor genau 30 Jahren gibt es mittlerweile 162 Filialen, Ihre Produkte werden in 14.600 Geschäften weltweit verkauft. In Umfragen wird Alnatura immer wieder zur beliebtesten Lebensmittelmarke der Deutschen gewählt…
Richtig, wir wachsen, und deshalb ziehen wir im kommenden Jahr um auf den „Alnatura-Campus“, ein ehemaliges Kasernengelände im Südwesten Darmstadts. Auch beim Neubau war uns Nachhaltigkeit wichtig. Für die 13.500 Quadratmeter große Alnatura-Arbeitswelt haben wir uns für ein Low-Tech-Gebäude aus gestampftem Lehm entschieden: Erde, die irgendwann wieder zu Erde wird, es geht also keine Energie verloren. Lehm isoliert sehr gut, schafft ein gutes Raumklima.
Die Konstruktion nutzt das gleichmäßige Licht des Nordens, saugt frische Waldluft aus der Umgebung an und nutzt die Geothermie. Auf dem insgesamt 55.000 Quadratmeter großen Areal wird es auch einen „Kinder-Natur-Garten“
geben. Das gesamte Projekt ist ein Beispiel für effiziente, sinnvolle und ästhetisch anspruchsvolle Gestaltung. Die Ästhetik ist die Ausdrucksform, die uns Menschen ebenbürtig ist.
Warum sind Ihnen der Schutz der Umwelt und die Sinnhaftigkeit des Arbeitsumfeldes Ihrer Mitarbeiter persönlich so wichtig? Sie könnten auch einfach die Hände in den Schoß legen und sich auf Ihrem Erfolg ausruhen…
Gesunder Menschenverstand! Warum sind wir auf der Erde? Bin ich hier, um – negativ gesprochen – mein Leben lang zu „malochen“, Einkommen zu generieren und dann das „Leid“, das ich in der Arbeit erlebe durch Glückserlebnisse, die ich zukaufe, zu lindern, um dann im ewigen Nirwana der Urne oder des Sarges wieder zu verschwinden? Das ist nicht meine Vorstellung von einem sinnvollen Leben.
Wenn ich an die Klassik, den Idealismus denke – Schiller, Goethe, Herder, Lessing, Fichte – das ist ein Weltbild, das mir einleuchtet, ein Menschenbild, das mich anspricht. Der Mensch ist eingespannt zwischen Stoff und Formtrieb, aber die Entwicklung des Spieltriebs ist die Situation, in der wir frei sind.
Die Verwirklichung der Freiheit ist Ideal, Ziel und Grund, warum ich diesen Weg gehe. Nicht bloß für mich selbst. Ich halte viele Vorträge und spreche darüber mit Freunden, auch meinen rotarischen Freunden. Gerade mit letzteren gibt es einen regen Austausch, das gefällt mir an Rotary.
Sie wurden schon als Pionier oder Wegbereiter bezeichnet. Sehen Sie sich und Ihr Unternehmen als Vorbild für die Wirtschaft?
Ich frage mich schon, was mancher Unternehmer für ein Menschenbild haben muss, wenn er seine Kunden eigentlich überreden oder sie manipulieren will, etwas zu kaufen, das sie nicht benötigen. Unser Ansatz funktioniert natürlich nur, wenn unsere Kunden unsere Produkte und Leistungen auch schätzen. Wir versuchen, Produkte zu entwickeln, die so gut sind wie es irgend geht. Jedes Alnatura-Produkt, das bei uns in die Regale kommt, wurde vorher von einem unabhängigen, externen Arbeitskreis genehmigt. In diesem sitzen unter anderem eine Ernährungswissenschaftlerin, ein Lebensmittelchemiker, ein Experte für Bio-Landbau. Gleichzeitig bemühen auch wir uns, wirtschaftlicher zu werden, Prozesse effizienter zu gestalten.
Wir sind offen für technische Innovationen, gerade haben wir den Prototyp einer neuen Kleinteilelogistik installiert, die ganz ohne Menschen, ausschließlich mit Robotern funktioniert. Ein Unternehmen sollte arbeiten wie ein Organismus. Deshalb ist Alnatura auf dem Weg zu einem sozialorganischen Unternehmen. Ich bin überzeugt davon, dass uns soziale Innovation in Zukunft noch stärker von anderen auf der Welt differenzieren wird – Produkte können von jetzt auf gleich kopiert, Dienstleistungen nachgeahmt werden. Menschen aber kann man nicht klonen. Die Art und Weise, wie sich Zusammenarbeit organisiert, wie Kunden angesprochen werden, wie ein Laden situativ bestückt wird – das kann man nicht zentral vorgeben. Unser Weg ist, einzelne Mitarbeiter zu befähigen, noch eigenverantwortlicher zu entscheiden.
Wie treffen Sie selbst Entscheidungen?
Ich kann ziemlich schnell entscheiden, versuche es aber nur dort zu tun, wo es meinen Bereich betrifft. Mitarbeiter haben bei Alnatura viele Freiräume. Ich halte Fehler aus, auch teure Fehler. Mir ist es wichtiger, dass jemand bereit ist, sich zu entwickeln.
So eine Arbeitsgemeinschaft wie wir es bei Alnatura sind, ist trotzdem kein sozialromantischer Verein, sondern verlangt ein Interesse an der Welt, Liebe zur Tat und die Bereitschaft zur Reflektion.
Sie sind Anthroposoph und Geschäftsmann. Gab es Momente des Widerspruchs?
Ich stelle laufend infrage, was ich tue. Ich bin ein Erkenntnistäter, versuche, aus Einsicht zu handeln, die Dinge zu begreifen, so gut es geht. In der Entwicklung von Alnatura gab es ganz viele Momente, in denen ich dachte: Gut, dass ich das nicht vorher wusste, sonst hätte ich es nie gemacht. Sollte ich ein nächstes Leben führen dürfen, würde ich sicher nicht noch einmal das gleiche machen.
Sondern, was würden Sie lieber tun?
Musik interessiert mich sehr. Ich würde vielleicht Dirigent werden. Oder Architekt. Ich gestalte gerne. Auch Unternehmensführung ist ein künstlerischer Prozess, obwohl viele denken, ein Unternehmen sei wie eine Maschine, mit Ursache und Wirkung. Aber das ist nicht die Realität. Unternehmen sind Organismen.
Das Interview erschien in der Reihe „Entscheider“ im Rotary Magazin.