Wie es war: Der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar – wie der Bibliotheks-Direktor, der Stiftungs-Direktor, ein Spediteur und der Wachabteilungsleiter die Brandnacht erlebten.
Der Tag ist so friedlich. Ein Donnerstag mit Sonnenschein und wenigen weißen Wölkchen am Himmel über Weimar, an dem Michael Knoche natürlich mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Diese wenigen Minuten allein im Fahrtwind – für den 53-jährigen Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ein kostbarer Moment der Ruhe vor einem Arbeitstag, der ein besonderer werden sollte. Er will es sich nicht zugestehen, aber die Sanierung des historischen Bibliotheksgebäudes und der dafür nötige, bevorstehende Umzug von einer Million Büchern in das neue Tiefenmagazin machen ihn nervös. Wie gut, wenn das alles hinter uns liegt, denkt er. Aber auch, fast gleichzeitig: Trotz des Stresses habe ich den schönsten Arbeitsplatz der Welt.
Gegen halb acht Uhr morgens klemmt Michael Knoche seine braune Ledertasche auf den Gepäckträger und fährt, in Anzug aber ohne Krawatte, wie meistens, am Historischen Friedhof vorbei durch die Stadt in Richtung Nordost. So kennt man ihn in Weimar: Als den stillen Bibliothekar mit der hohen Stirn, dem kurzen weißen Haar und der runden Hornbrille. Seit 1991 ist er Direktor der Bibliothek.
Immer wieder staunt Michael Knoche über den wunderschönen Anblick, der sich ihm bietet, wenn er in die Ackerwand, eine kopfsteingepflasterte Straße hinter Goethes Hausgarten, einbiegt und am Ende links auf den Platz der Demokratie fährt. Rechts vor ihm das Grüne Schloss, ein weißes Palais aus dem 16. Jahrhundert und seit der Regentschaft Anna Amalias, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Herberge der höfischen Büchersammlung. Diese schöne alte Bibliothek, deren leicht moderiger Geruch Knoche jeden Morgen so vertraut in die Nase steigt. In der so viel Geschichte steckt: Der Architekt und Oberbaudirektor des Großherzogtums, Clemens Wenzeslaus Coudray, hatte das Gebäude in den 1820er Jahren erweitert, Johann Wolfgang von Goethe leitete die Bibliothek bis zu seinem Tod 1832. Und dann, auf der Rückseite, der von der spätsommerlichen Morgensonne in goldenes Licht getauchte Park an der Ilm. Der Anblick lässt Michael Knoche langsamer radeln. Wie harmonisch doch Stadt und Natur an diesem Ort miteinander verbunden sind, denkt er.
An diesem Morgen muss der Bibliotheksdirektor gleich weiter zum Stadtschloss, denn dort treffen sich jeden Donnerstag der Präsident der Klassik Stiftung Weimar, Hellmut Seemann, und die Direktoren aller in der Stiftung zusammengeschlossenen Kultureinrichtungen Weimars. Dieses Mal wird über ein gerade veröffentlichtes Gutachten des Wissenschaftsrates diskutiert. Seemann sagt, die Stiftung müsse sich stärker ihren Schwerpunkten, der Weimarer Klassik und der Moderne widmen. Die Sitzung dauert den ganzen Vormittag.
Auch der Terminkalender von Hellmut Seemann ist an diesem Tag voll. Der 50-Jährige freut sich auf den frühen Abend. Um 17 Uhr ist er auf Schloss Ettersburg auf dem Ettersberg, nördlich von Weimar, mit befreundeten Wissenschaftlern verabredet. Alle drei Monate treffen sie sich hier, um gemeinsam Texte zu lesen. An diesem Abend geht es um Immanuel Kants „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“.
Als auf dem Schloss die Debatte über Wahrheit und Wahrhaftigkeit beginnt, sitzt Michael Knoche Zuhause über seiner Post. Das Telefon klingelt. Es ist 20.29 Uhr. Ein Mitarbeiter der Bibliothek ist dran, sonst ein gelassener Mensch, aber jetzt klingt er aufgeregt: „Die Bibliothek brennt. Ich weiß nicht, ob Sie kommen wollen.“ Wenige Tage zuvor gab es einen Fehlalarm, vielleicht deshalb dieser absurde zweite Satz. Doch daran denkt Michael Knoche nicht. Er ist plötzlich hellwach, wirft sich seine dunkelblaue Freizeitjacke über und läuft zum Fahrrad.
Während der Bibliotheksdirektor zum zweiten Mal an diesem Tag die Ackerwand in Richtung Nordost fährt, so schnell wie selten zuvor, und ohne den Schönheiten der Stadt Beachtung zu schenken, betrachtet Majdi Abdulhag seine schlafende Tochter Lina. Die Einjährige hat sich ohne großes Murren von ihrem Vater ins Bett bringen lassen und schläft jetzt friedlich. Majdi Abdulhag ist müde, er hat einen stressigen Tag hinter sich. Als Inhaber des Weimarer Speditionsunternehmens „Huck Finn“ akquiriert er Aufträge, schreibt Kostenvoranschläge, kontrolliert die Buchhaltung. Kurz nachdem der 35-Jährige seiner Tochter einen Gute-Nacht-Kuss gegeben und sich ins Wohnzimmer gesetzt hat, klingelt auch bei ihm das Telefon. Ein Freund aus der Stadt. Er erzählt aufgeregt, dass überall Sirenen zu hören seien. „Hier sind ganz viele Feuerwehren, das muss ein großer Brand sein“, sagt der Freund. Er habe gehört, es ist die Bibliothek.
Stiftungspräsident Hellmut Seemann hört sein Handy. Er hat es auf Vibrationsalarm gestellt, das Gerät lässt seinen Aktenkoffer zittern. Er guckt nicht nach, ganz bestimmt ist es seine Frau Annette, die wissen möchte, wann er zu Hause sein wird. Aber das Handy hört nicht auf zu vibrieren. Es hat jemand auf die Mailbox gesprochen. Kurz vor neun Uhr. Annette. „Die Bibliothek brennt, du musst dich sofort melden!“ Hellmut Seemann findet, ihre Stimme klingt trotz der Nachricht unaufgeregt. Dabei neigt seine Frau normalerweise dazu, Dinge zu dramatisieren. Wahrscheinlich ist nur ein brennender Papierkorb. Er fährt trotzdem los. Er hat ein ungutes Gefühl.
Hartmut Haupt hat nach seiner Schicht noch Gartenarbeit gemacht. Der Leiter der Berufsfeuerwehr Weimar wohnt in Berlstedt, rund elf Kilometer nördlich der Stadt. An diesem Abend hat der 55-Jährige Rufbereitschaft, die zweite in dieser Woche. Immer mittwochs bis mittwochs, tagsüber die normale Schicht, nachts im Notfall. Als er aus der Dusche kommt, ist es soweit: Die Wache ist am Telefon. Nicht immer wird der Leiter angerufen, nur bei den größeren Sachen. Es ist eine große Sache. 20.30 Uhr, Hartmut Haupt zieht seine Uniform an und rast los. Die Feuerwehr registriert den Alarm der Brandmeldeanlage in der Bibliothek um 20.25 Uhr. Der alte, denkmalgeschützte Komplex mit seinen Holzverkleidungen, den wertvollen Büchern und Kunstgegenständen gehört zu den am stärksten gefährdeten Gebäuden der Stadt. Die Berufsfeuerwehr rückt mit drei Fahrzeugen und Tanklöschzug aus. Von der Wache in der Erfurter Straße bis zum Platz der Demokratie sind es nicht einmal eineinhalb Kilometer. Um 20.31 Uhr sind die ersten Feuerwehrmänner dort. Sie sehen den dichten schwarzen Qualm, der aus dem Dach des Gebäudes dringt, und wissen: Diesmal ist es kein Fehlalarm.
Der Wachabteilungsleiter, zweiter Mann nach Hartmut Haupt, erinnert sich daran, dass die Freiwillige Feuerwehr gerade eine Schulung in der Georg-Haar-Straße im Westen der Stadt hat. Glück im Unglück, denn so können die Männer schneller als sonst vor Ort sein. Über die Leitstelle lässt er alle sechs Freiwilligen Feuerwehren der Stadt alarmieren.
Hartmut Haupt braucht 20 Minuten. Er versucht, nicht an die Verantwortung zu denken, die auf seinen Schultern lastet, nicht an die unwiederbringlichen historischen Schätze, die in Gefahr sind. Seit 1968 ist er bei der Feuerwehr, seit 1990 Leiter der Berufsfeuerwehr Weimar. Er hat schon viele Brände gelöscht, auch diesen wird er besiegen, hoffentlich. Um 20.50 Uhr ist er da. Die Scheinwerfer und das Blaulicht erhellen den Vorplatz und das Gebäude. Hartmut Haupt hat kein gutes Gefühl. Aus dem alten Dachstuhl quillt mal heftig, dann wieder ganz wenig Qualm hervor. In den Dachgauben stehen grelle Flammen. Immer mehr Menschen laufen auf den Platz, sie kommen aus der ganzen Stadt. Sie wollen helfen, irgendetwas tun, bloß nicht nur zusehen müssen. Hartmut Haupt schwitzt. Er muss Ruhe bewahren. Sein Wachabteilungsleiter sagt, dass keine Menschen in der Bibliothek sind. Das sei doch schon mal was.
Die erste Drehleiter wird hochgefahren, das erste Team versucht, mit schwerem Atemschutzgerät zum Feuer zu kommen. Die Männer stürmen ins erste Stockwerk, durch den Rokokosaal, vorbei an vergoldeten Rocailleverzierungen, Skulpturen und wertvollen Gemälden durch das zweite Geschoss über die Treppe nach oben. Doch die Brandschutztür zum Dachboden glüht – keine Chance, durchzukommen. Hartmut Haupt mahnt seine Männer auf der Drehleiter per Funk zur Vorsicht, er befürchtet eine Durchzündung. Niemand soll dem Dach zu nah kommen. Es droht Lebensgefahr.
Michael Knoche muss aufpassen, er fährt so schnell, dass die dünnen Reifen seines Fahrrades über das Kopfsteinpflaster rutschen. Am Ende der Ackerwand biegt er links um die Ecke. Und erstarrt. Dicke Rauchschwaden steigen aus dem Dach seiner Bibliothek. Der schönste Arbeitsplatz der Welt brennt. Ein Albtraum. Kurz spürt er den Impuls, wieder umzukehren, abzutauchen in die Dämmerung. Einfach wieder nach Hause fahren und morgen früh wie immer um diese Ecke biegen, und alles ist wieder gut. Aber nichts ist gut.
Michael Knoche läuft über den Vorplatz, ohne auf die Absperrung oder die vielen Menschen zu achten, die Treppe hoch ins erste Geschoss, vorbei am Rokokosaal, und weiter bis zu seinem Büro im noch unversehrten zweiten Stockwerk. Stille. Unwirkliche, vertraute Stille, hier in seinem Arbeitszimmer. Ein paar Sekunden lang hält er inne, rennt dann wieder nach unten, vorbei an ihm entgegen kommenden Feuerwehrleuten. Er weiß nicht, was er machen soll. Evakuieren? Abwarten? Er denkt an den geplanten Umzug der Bücher, 20 Tage hatte er dafür veranschlagt. Jetzt hat er nur Minuten.
Knoche glaubt nicht an Wunder. Er möchte vorbereitet sein, sollte sich der Brand weiter ausbreiten. Das Haus besteht überwiegend aus Holz, das weiß er, und Holz brennt schnell. Er schnappt sich das nächstgelegene Gemälde, trägt nach und nach Bilder und einzelne Bücher aus dem Haus und legt sie vorsichtig auf den Vorplatz. Draußen trifft er mehrere seiner Mitarbeiter, die bis zur Schließung um 20.30 Uhr in der Bibliothek gewesen waren. Zusammen retten sie erst einmal die Dinge, die sie für die wichtigsten halten, schleppen einzelne Folianten und Bücher aus dem Haus nach unten. Dann fallen dem Direktor das gerade fertig gestellte Tiefenmagazin und der unterirdische Durchgang ein, die neuen leeren Regale. „Ab sofort alles direkt dorthin“, ruft er seinen Leuten zu. Immer mehr Menschen schließen sich an, wollen helfen. Wildfremde Gesichter. Michael Knoche kann nur an die Bücher denken. Sie bilden eine Menschenschlange.
Hellmut Seemann ist fast da. Vor ihm taucht das ehemalige Gauforum, ein im Dritten Reich von den Nazis gebauter Komplex mit Glockenturm und großem Vorplatz, auf. Über dem Gelände sieht der Stiftungspräsident riesige Rauchschwaden in den Himmel steigen. Dieser Anblick wird ihm als einer der schrecklichsten an diesem Abend in Erinnerung bleiben. Als er von Norden aus vorbei am Büro der Touristen-Information zur Bibliothek läuft, fallen die ersten Schieferplatten vom Dach. Sie knallen auf den Vorplatz und hinterlassen schwarze Brocken.
Es ist 21 Uhr. Auf dem Platz der Demokratie drängen sich inzwischen die Feuerwehrfahrzeuge. Hartmut Haupt hat Hilfe aus dem gesamten Landkreis angefordert, er braucht Drehleitern und mehr Männer. Insgesamt werden in dieser Nacht 946 Einsatzkräfte mit 74 Fahrzeugen von 36 Feuerwehren aus ganz Thüringen kommen. Den weitesten Weg legen die Helfer von der Berufsfeuerwehr Gera zurück, sie fahren 70 Kilometer, um die Bibliothek zu retten.
Hartmut Haupt beobachtet den Dachstuhl, die pulsierenden Flammen. Plötzlich schlägt eine riesige Flamme aus der Mitte des Dachs, mindestens 13 Meter hoch. Die Durchzündung. Wie bei einer Explosion schießen mit dem Feuer tausende Buchseiten in den Himmel und schweben über den Platz. Haupt atmet tief durch. Mit der Durchzündung ist das Feuer nun kalkulierbar, ein offener Brand, bei dem man als Feuerwehrmann weiß, was einen erwartet. Jetzt können auch die Drehleitern wieder dichter ans Dach. Er entscheidet, mit Netzwasser und Schaum zu löschen.
Die Bibliothek. Eine Horrorvorstellung für Majdi Abdulhag. „Die Herzogin gehört doch zur Stadt“, sagt er zu seinem Freund. „Die Herzogin“, sagt er, als ginge es um eine Person. Er kann sich den Anblick der brennenden Bibliothek einfach nicht vorstellen. Die Herzogin, denkt er, ohne sie wäre Weimar nicht mein Weimar. Sein Telefon klingelt wieder, ein Mitarbeiter aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar ist dran, die beiden Männer kennen sich. Der Archivar bestätigt: „Es ist die Bibliothek.“ Aber man könne noch Bücher retten, jeder werde gebraucht. Majdi Abdulhag setzt sich in seinen Kleintransporter und fährt von seinem Haus in Niederzimmern so schnell er kann die 14 Kilometer nach Weimar. Als er dort ankommt, ist es ungefähr 22.30 Uhr.
Seinen Transporter stellt er in einer Nebenstraße ab, bahnt sich den Weg bis zur Bibliothek. Hunderte Menschen drängen sich davor, es ist laut und unübersichtlich. Majdi Abdulhag sieht Menschen weinen, andere starren erschrocken und wie gebannt hinauf zu den Flammen. Irgendwie schafft er es, an den Absperrungen vorbei zu kommen, reiht sich im Gebäude in die Menschenkette ein und gibt einen Bücherstapel nach dem anderen nach unten weiter. Majdi Abdulhag erkennt Hellmut Seemann, den Stiftungspräsidenten, und den Direktor der Bibliothek, Michael Knoche. Er steht genau neben ihm, Schulter an Schulter, nimmt Bücher, die schon Goethe und Schiller in den Händen hielten, entgegen. Der Direktor sieht ihn nicht. Er betrachtet jedes Buch, liebevoll, betroffen, manchmal traurig. Majdi Abdulhag beobachtet, wie Kartons mit Büchern weitergegeben, im Tiefenmagazin ausgeleert und wieder zurück gebracht werden. Vom Löschwasser sind sie schon ganz weich. Er schert aus der Menschenkette aus und läuft zu seinem Transporter.
Die Evakuierung der Bücher läuft zum Teil chaotisch und muss besprochen werden. Michael Knoche, Hellmut Seemann und einige andere Männer treffen sich zu einer kurzen Lagebesprechung in einem der Feuerwehrwagen. Es ist eng und stickig, die Feuerwehrleute berichten kurz und sachlich von den einzelnen Brandherden. Es bestehe die Gefahr, dass das Feuer durch die ovale Öffnung zwischen dem zweiten und dritten Geschoss das ganze Gebäude entzündet. Durch diese Öffnung war vor diesem Tag vom Rokokosaal aus das Deckengemälde „Genius des Ruhms“ nach Annibale Carracci zu sehen. Sie sagen, man könne nicht sicher sein, dass die Decke hält. Michael Knoche denkt an seine Bibliothek, die vielen unbezahlbaren Schätze, die nun von Flammen und Wasser bedroht sind. Er empfindet die Sprache der Brand-Profis als militärisch.
Hellmut Seemann ringt nach Argumenten. Doch gegen die Feuerwehrleute kommt er nicht an, es gibt kein Argument, das die Gefährdung von Menschenleben rechtfertigen würde. Die Entscheidung der Einsatzleitung steht fest: Die Bibliothek darf nicht mehr betreten werden.
Michael Knoche und Hellmut Seemann stehen hilflos davor. Durch die Fenster sehen sie Flammen, die sich durch Bücherregale fressen. Bände aus der Barockzeit, Notendrucke und handschriftliche Partituren aus der Musikaliensammlung Anna Amalias – alles verloren. Plötzlich fällt Michael Knoche die Luther-Bibel ein. Die erste vollständige Ausgabe des Alten und Neuen Testaments aus dem Jahr 1534 mit kolorierten Holzstichen aus der Cranach-Werkstatt – sie müsste noch immer im zweiten Stockwerk stehen, unversehrt. Also doch wieder ins Haus. Auf der Treppe begegnet er einem Feuerwehrmann: „Ich muss die Bibel holen“, ruft Michael Knoche ihm entgegen, atemlos. Überraschenderweise sagt der nur: „Okay“. Die beiden Männer laufen durch die Gänge, über Wasserschläuche, die auf dem Boden liegen, durch Pfützen. Der Feuerwehrmann leuchtet den Weg mit der Taschenlampe, fragt immer wieder „Wohin? Wohin?“ Von oben regnet lauwarmes Löschwasser. Sie kommen tatsächlich in den zweiten Stock. Knoche greift sich die beiden schweren Bände der Luther-Bibel, überlegt kurz, packt die Ausgabe des September- und Dezember-Testaments von 1522 noch oben drauf und bringt sie sicher aus dem Gebäude.
Irgendwer hat eine spontane Pressekonferenz im Hotel Elephant organisiert. Oberbürgermeister Volkhardt Germer und Kultusminister Jens Goebel sprechen kurz, dann erhält Hellmut Seemann das Wort. Auf dem kurzen Fußweg von der Bibliothek zum Hotel hat er einen verkohlten Druck von der Straße aufgehoben, den er nun in die Kameras hält. Er hört sich selbst noch die Kontonummer für Spenden aufsagen.
Michael Knoche soll sich zum Ausmaß des Schadens äußern. Er ist in Gedanken bei einzelnen Büchern, er kann in diesem Moment nicht mehr rechnen. Er redet von etwa 15 000 zerstörten Büchern. Später stellt sich heraus, dass es mehr als 50 000 sind.
Dieter Althaus ist geschockt. Eben noch saß Thüringens Ministerpräsident auf einem der rot gepolsterten Holzstühle im Studio der ZDF-Sendung „Berlin Mitte“. Der CDU-Politiker diskutierte eine Stunde lang mit dem SPD-Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, der PDS-Spitzenkandidatin für Brandenburg, Dagmar Enkelmann, und dem Kölner Sozialarbeiter Thomas Münch über das Thema „Demos, Druck und Defizite – wer zahlt für Hartz IV?“. 2,46 Millionen Zuschauer wird der Sender später zählen. Dann, kurz nachdem Moderatorin Maybrit Illner das Ende der Sendung verkündet, kommt ein Mitarbeiter auf Dieter Althaus zu und informiert ihn über den Brand. Thüringens Landesvater beschließt, sofort nach Weimar zu fahren.
Majdi Abdulhag hat für die Fahrt von Weimar nach Niederzimmern nicht lange gebraucht, die Straßen sind frei in dieser Nacht. Er lädt alle Umzugskartons ein, die er in seinem Lager am Haus stehen hat, es sind ungefähr 1500.
Als Michael Knoche und Hellmut Seemann von der Pressekonferenz zurückkehren, sind wieder Menschen in der Bibliothek. Das Gebäude ist doch nicht einsturzgefährdet. Hellmut Seemann ist wieder in seinem Element, es gibt etwas zu organisieren. Er koordiniert die Menschenkette vom zweiten Stockwerk bis ins Tiefenmagazin. Durch die Scheinwerfer und das Blaulicht auf dem Vorplatz fällt fahles Licht durch die Fenster, immer mehr Löschwasser tropft von den Decken, auf dem Boden haben sich tiefe Pfützen gebildet. Alle sind durchnässt und schmutzig. Es riecht nach Asche, Staub und Schmutzwasser.
Dieter Althaus sitzt im Fond seines Dienstwagens, über die Autobahnen A 100, A 10 und A 9 geht es vorbei an Potsdam, Dessau, Leipzig, Gera und Jena. Draußen ist es inzwischen Nacht, der Ministerpräsident denkt an das wichtige Stück Weltkulturerbe, das nun in Flammen steht. Der kurze Satz seines Referenten kreist in einer Endlosschleife durch seinen Kopf: „Die Bibliothek brennt lichterloh.“ Eine Katastrophe. Über Mobiltelefon lässt er sich vom Thüringer Lagezentrum ständig über die Lage informieren. Es ist ein Uhr morgens, als Dieter Althaus, in Anzug und mit Krawatte, wie immer, auf dem Platz der Demokratie steht und das betrachtet, was das Feuer von der Herzogin Anna Amalia Bibliothek übrig gelassen hat.
Um 22.23 Uhr hatte Einsatzleiter Hartmut Haupt gemeldet: Der Brand ist unter Kontrolle. Um 23.30 Uhr: Das Feuer ist aus. Trotzdem wird die ganze Nacht weiter gelöscht, es gibt noch immer Glutherde. Aus dem Dach der Anna Amalia Bibliothek wird noch drei Tage später, am Sonntag, Rauch kommen.
Hartmut Haupt verspürt auch am nächsten Morgen keine Müdigkeit. Er ist im Einsatz, da kann er sich so was nicht erlauben. Irgendwoher, jemand sagt, von einer Hochzeitsfeier, werden belegte Brötchen gebracht. Das Coca-Cola-Werk Weimar bringt Getränke für die Helfer. In dieser Nacht tut jeder das, was in seinen Möglichkeiten liegt.
Als Hellmut Seemann mit Ministerpräsident Dieter Althaus durch das Gebäude geht, sieht er jemanden in der Menschenkette zusammensinken. Die Menschen können nicht aufhören, zu helfen. Unermüdlich geben sie Kartons mit Büchern weiter, ohne Rücksicht auf Hunger oder Müdigkeit. Hellmut Seemann fängt in dieser Nacht wieder an zu rauchen. Ein Jahr lang hatte er durchgehalten, jetzt hat er keine Kraft mehr, eine ihm angebotene Zigarette abzulehnen.
Gegen fünf Uhr morgens fährt Hellmut Seemann nach Hause. Vorher haben er und Michael Knoche allen Helfern gedankt und gesagt, dass sie ins Bett gehen sollen. Die Zeit der Erholung ist kurz: Um neun Uhr weckt ihn seine Frau Annette. Staatsministerin Christina Weiss, Beauftragte des Bundeskanzlers für Kultur und Medien, hat sich für elf Uhr in Weimar angekündigt.
Überwältigt von den Eindrücken der Nacht umarmt Michael Knoche die Staatsministerin, als die ihn vor der Bibliothek begrüßt. Sie sagt eine finanzielle Soforthilfe von vier Millionen Euro zu.
Auf der Pressekonferenz am Morgen im Rathaus spricht Hellmut Seemann aus, was alle denken: „Um ein Haar wäre die Wiege der deutschen Klassik völlig zerstört worden.“ Und Michael Knoche, übernächtigt und emotional aufgewühlt, ruft: „Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek wird nicht untergehen!“
Später ist es ihm peinlich, dass ausgerechnet dieser Satz, in dem seine Stimme etwas verrutschte, immer wieder zitiert wird. Doch zum Glück wird er Recht behalten.